Chronik – Die 1940er-Jahre

Kulturelle Binnenwanderung


Bick auf Konstanz

Ende des Zweiten Weltkrieges: Die Großstädte und Metropolen des Landes liegen in Trümmern. Der Bodenseeraum – aufgrund der Grenzlage zur Schweiz vom Kriegsgeschehen nur marginal berührt – wird zusammen mit seinem oberschwäbischen Vorland zu einem regelrechten Magneten für Kulturschaffende.
Zu den zahlreichen bereits ansässigen Literaten und bildenden Künstlern, Theaterleuten und Musikern, Fotografen und Kunsthandwerkern kommen aus dem gesamten Land viele Maler, Schriftsteller und andere Künstler hinzu, um nun abseits der zerbombten Städte schöpferisch tätig zu sein. Teil der kulturellen Binnenwanderung sind auch ein Dutzend Verleger, die sich am Bodensee niederlassen.

Blick auf Konstanz, Aufnahme aus den 1950er-Jahren


Die Gründung des Südverlag


Im Sommer 1945 gründet Johannes Weyl in Konstanz den „Südverlag“, einen Verlag für schöngeistige Literatur. Weyl, der Biologie und Philosophie studiert hatte, war schon bald zum Journalismus gewechselt, erst als freier Pressemitarbeiter, dann als Redakteur im Berliner Ullstein-Verlag, dem seinerzeit größten Verlagshaus Europas. Dort zeichnete Weyl bis 1944 verantwortlich als Leiter des Zeitschriftenzentralbüros. Viele Zufälle führen ihn bei Kriegsende nach Konstanz, wo er von der französischen Militärregierung schon bald die Lizenz erhält zur Gründung der Tageszeitung „Südkurier“ und des „Südverlags“.
Johannes Weyl


Von Berlin an den Bodensee


Viele seiner ehemaligen Kollegen und Mitarbeiter folgen Johannes Weyls Ruf, sodass Konstanz rasch zu einer Miniaturausgabe des Berliner Ullstein-Verlags wird. Die „Berliner in Konstanz“ bringen großstädtische Offenheit und kulturelle Neugier mit. So betraut Johannes Weyl Ludwig E. Reindl, den ehemaligen Chefredakteur der Zeitschrift „Dame“ und selbst Schriftsteller, mit dem literarischen Programm des Südverlags. Reindl wird ab 1947 auch die literarische Monatszeitschrift „Die Erzählung“ herausgeben. Und der Grafiker Gottlieb Ruth, ehemaliger künstlerischer Berater des Ullstein-Verlags, gestaltet fortan die gesamte Buchproduktion des Südverlags. Seine Frau Asta Ruth-Soffner sorgt für die Illustrierung v.a. der Zeitschrift „Die Erzählung“.

Johannes Weyl in den 1950er- Jahren



        


        




Miniaturausgabe des Ullstein-Verlags


Aufgrund der Mangelwirtschaft nach dem Krieg ist es nicht leicht, einen Verlag in Gang zu bringen – vor allem Papier und Strom fehlen nur zu oft. Auch die komplizierten Antragsverfahren bei den Zensurbehörden erschweren den Programmaufbau. Doch bald schon kann Johannes Weyl für den Südverlag ein breitgefächertes Programm vorweisen, wie seinerzeit im Berliner Ullstein-Verlag. Es reicht vom praktischen Ratgeber bis zum philosophischen Text, von der literarischen Zeitschrift bis zum Roman, vom Lyrikband über die Biografie bis hin zum Schnittmusterheft. Und entspricht damit den aktuellen Bedürfnissen des lesenden Publikums, seinem Nachholbedarf nach zwölf Jahren Diktatur.



                    


Literarische Zeitschriften von Rang

Die Nachkriegsjahre gelten als „Zeitschriftenjahre“. Die Herstellung von Büchern kommt nur schleppend in Gang – weniger aufwändig in der Herstellung und auch kostengünstiger sind Zeitungen, Zeitschriften und Broschüren. Im Januar 1947 wird im Südverlag die erste Ausgabe der literarischen Zeitschrift „Die Erzählung“ veröffentlicht, für insgesamt vier Jahre. Zielgruppe sind „Freunde wertvoller Romane und besinnlicher Unterhaltung“, wie es im Untertitel heißt. Gedruckt wird noch auf schlichtem Zeitungspapier, Zeugnis einer von Mangel gekennzeichneten Zeit. „Die Erzählung“ versteht sich als „schöne Zeitschrift“ und verspricht „gute Literatur, in der die deutschen Dichter sprechen“ – ohne gesellschaftskritische Funktion, dafür mit heilender Wirkung. Die Zeitschrift erscheint monatlich und wird mit durchschnittlich 50.000 Exemplaren aufgelegt. Eine höhere Auflage lässt der Papiermangel nicht zu. Die Hefte, in denen auch ganze Romane abgedruckt werden, werden bestritten mit literarischen wie belletristischen Beiträgen von Autoren wie Peter Bamm, Hans Carossa, Manfred Hausmann, Wilhelm Hausenstein, Paul Alverdes, Friedrich Bischoff, Carl Zuckmayer, Alice Herdan-Zuckmayer oder Otto Zoff. Ebenfalls ab 1947 erscheint die „Vision“ im Südverlag, eine literarische Zeitschrift, die sich als „die große Repräsentation deutschen Geistes aus allen Jahrhunderten“ versteht. Alle zwei Monate liefert sie Beiträge aus sämtlichen Gebieten der Literatur: Philosophie, Psychologie, Geschichte, Politik, Naturwissenschaften, schöne Künste, Dichtung, Selbstzeugnisse, Biografien.



                 


Der Lyrikpreis des Südverlags

Der „Lyrikpreis des Südverlags“ wird zum ersten Mal für das Jahr 1947 ausgeschrieben, dann nochmals für 1948 und 1949. Die Idee dahinter ist, für das gute Gedicht Aufmerksamkeit zu bewirken und lyrische Begabungen, die für das deutsche literarische Leben so charakteristisch sind, zu fördern. Teilnahmeberechtigt ist jeder deutschsprachige Autor. Eingereicht werden dürfen bis zu fünf unveröffentlichte Gedichte. Vergeben werden ein Hauptpreis und sechs Nebenpreise. Die Redaktion erwirbt die Rechte an den ausgezeichneten Beiträgen. In der Jury für den Lyrikpreis des Südverlags befindet sich u.a. Marie Luise Kaschnitz. Gewinner des ersten Preises 1947 wird Martin Gumpert mit seinem Gedichtzyklus „Berichte aus der Fremde“. Zu den Preisträgern des Jahres 1949 gehört u.a. Karl Krolow, dessen erste Gedichtpublikation überhaupt, die Sammlung „Gedichte“, 1948 im Südverlag erschienen ist.

 Das Ergebnis des Lyrikwettbewerbs von 1949
 mit den Selbstdarstellungen der Preisträger in
 „Die Erzählung“



Nachkriegslyrik und Übersetzungen französischer Lyrik


Das Kriegsende, die viel zitierte „Stunde Null“, ist auch für das Gedicht eine beispiellose Gelegenheit, sich neu zu etablieren, schreibt Karl Krolow in den 1960er-Jahren rückblickend. In den ersten Nachkriegsjahren steht auch Krolow an jenem Übergang in eine neue Offenheit. Sein mit dem bloßen Gattungstitel „Gedichte“ versehener Band, den der Südverlag 1948 herausbringt, markiert genau diesen Scheidepunkt: teils noch in der Tradition naturmagischer Lyrik befangen, teils mit Hinweisen schon auf den Neubeginn.


Eines der stärksten Motive zum Betreiben eines Verlags ist nach 1945 der enorme Nachholbedarf. Nun, da sich die Welt langsam zu öffnen beginnt, fokussieren sich die Verlage auch auf fremdsprachige Literatur. Bemerkenswert sind vor allem drei französische Lyrikanthologien und Liedsammlungen, die in den Jahren 1947, 1948 und 1949 im Südverlag erscheinen.


     


Die „Schriften des Südverlags“


Beachtenswert auch die kleine Broschürenreihe „Schriften des Südverlags“, deren Hefte – jeweils zwischen 24 und 56 Seiten stark – 1947 publiziert werden. Thematisch widmen sich die Broschüren dabei der Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, ihrer Anerkennung als Voraussetzung für den Aufbau einer demokratischen Gesellschaft. Auch eine drei Titel umfassende Anthologie deutscher Dichtung erscheint in den „Schriften des Südverlags“. Ihre Gedichte spiegeln Trost und Verzweiflung, das Infragestellen der Macht wie das „Prinzip Hoffnung“ durch drei Jahrhunderte.


              


Praktische Ratgeber aus dem Südverlag


                




Begegnung mit Viktor Mann


Anfang Juli 1947 war Viktor Mann, der während des Dritten Reiches in Deutschland geblieben war, nach zwölf Jahren Trennung wieder mit Thomas, Katja und Erika Mann in der Schweiz zusammengetroffen, genauer in Kreuzlingen, der Nachbarstadt von Konstanz. Johannes Weyl hatte dank seiner guten Beziehungen zur französischen Kommandantur in Konstanz den Passierschein für Viktor Mann erwirkt. „Als Viktor Mann, der jüngere Bruder von Heinrich und Thomas Mann, in einer Konstanzer Dachkammer uns zum ersten Mal gegenübersaß, begann er zu erzählen. Wie ein Charakterzeichner mit scharfem Umriss sofort das Wesen einer Physiognomie festlegt, so traf er mit einem Satz erschließend das Charakteristische jedes Menschenbildes, das sich ihm in die Erinnerung hob. Die Mutter, die Schwestern, die Brüder, die Frauen in ihrem Leben, die Freunde, die Widersacher, eine Fülle von Bildern breitete sich aus. (…) Wir sprachen es schließlich aus: ‚Sie müssen das alles aufschreiben. Sie müssen Ihr Leben erzählen‘“. So kommt nach der Erinnerung Ludwig Emanuel Reindls der Südverlag zu seinem vielleicht bemerkenswertesten Buch. Es ist die Geschichte der Familie Mann aus der Sicht des deutlich jüngeren Bruders der beiden berühmten Schriftsteller, 1949 erstmals aufgelegt unter dem Titel „Wir waren fünf.“ Dieses „auto- und familienbiographische Erinnerungsbuch“, wie Viktor Mann sein Werk selbst bezeichnet hat, wird in den folgenden Jahrzehnten im Südverlag mit mehreren Auflagen zu einer festen Konstante im Programm werden und im Frühjahr 2017 als komplett überarbeitete Neuausgabe mit einem umfänglichen Nachwort von Manfred Bosch erscheinen.
Viktor Mann, Aufnahme nach 1945



           

Das Original und eine Auswahl seiner Lizenzausgaben: broschierte Ausgabe (2006), DDR-Ausgabe (1961), niederländische
(2003), polnische (1966) und ungarische (1977) Übersetzung




Ankündigung der vom Südverlag veranstalteten Autorenabende
mit Viktor Mann im Deutschen Theater Konstanz


Die „Vater und Sohn“-Bildgeschichten

„Vater und Sohn“, wer kennt sie nicht, diese liebenswerten, von hintergründigem Humor getragenen Bildgeschichten aus der Feder des genialen Zeichenkünstlers Erich Ohser alias e.o.plauen? Was nicht jeder weiß, ist, dass die Idee zu „Vater und Sohn“ anlässlich eines Wettbewerbs entstanden ist. Im Frühjahr 1934 plant man bei der auflagenstarken Berliner Illustrirten Zeitung (nur mit „i“) eine regelmäßige Bildgeschichte mit einem festen Charakter, einer sogenannten "stehenden Figur". Johannes Weyl, seinerzeit noch Leiter der Zeitschriftenabteilung im Ullstein-Verlag, beauftragt seinen Redakteur Kurt Kusenberg, per Ausschreibung einen passenden Künstler für eine solche Figur zu finden. Vor mehr als zwei Dutzend anderer Zeichner gewinnt Erich Ohser den Wettbewerb – dank seiner eingereichten Szenerie mit dem kugelbäuchigen, gutmütigen Vater und dessen strubbelköpfigem, pfiffigem Sohn. Am 13. Dezember 1934 erscheint in der Berliner Illustrirten Zeitung die erste „Vater- und Sohn“-Bildgeschichte. Im Wochenrhythmus folgen viele weitere, die letzte im Dezember 1937. Sparsam im Strich und pointiert in der Aussage erzählen die Bildgeschichten fröhlich und warmherzig von kleinen Pannen und witzigen Begebenheiten aus dem Alltag der beiden Protagonisten. Millionen Leser sind begeistert. Denn Ohsers „Vater und Sohn“ haben so gar nichts Großsprecherisches oder Heldisches an sich; vielmehr bestehen die beiden Bildgestalten ihre Alltagsabenteuer mit Menschenliebe, Spielfreude und Fantasie. Nach Ohsers Tod vermacht seine Witwe die Rechte an „Vater und Sohn“ dem Südverlag – aus Dankbarkeit gegenüber Johannes Weyl, der Ohser mit „Vater und Sohn“ die Möglichkeit gab, unter Pseudonym zu arbeiten, nachdem Ohser seiner politischen Karikaturen wegen von den Nationalsozialisten mit einem Berufsverbot belegt worden war. In drei Bänden à 50 Bildgeschichten erscheinen „Vater und Sohn“ ab 1949 im Südverlag und werden – bis zum Freiwerden der Rechte am 01.01.2015 – zu erfolgreichen Longsellern.


Erich Ohser mit seinem Sohn Christian, aus einem
Verlagsprospekt zu Vater und Sohn
Vater und Sohn-Bildgeschichte
„Das fesselnde Buch“
Verlagsprospekt für die drei Buchaus-
gaben von Vater und Sohn, 1949



     


Autoren, die Verlagsautoren wurden


Das Programm wächst stetig: 1949 erscheinen 19 Titel – mehr als in jedem anderen Jahr. Gerade auch die beiden literarischen Zeitschriften „Die Erzählung“ und „Vision“, die in den anderen Besatzungszonen und im Ausland berechtigtes Aufsehen erregen, weisen den Südverlag als attraktiven Verlag für schöngeistige Literatur aus. Und mit Friedrich Bischoff, Martin Gumpert, Gerhard F. Hering, Karl Jaspers, Viktor Mann, Gerhard Masur, Erich Ohser alias e.o.plauen, Eduard Spranger, Paul Wiegler, Otto Zoff und anderen hat der Südverlag inzwischen eine respektable Autorenschaft um sich geschart.


Beinahe wäre Ricarda Huch Autorin des Südverlags geworden. Doch die französischen Zensurbehörden genehmigen eine Veröffentlichung in Deutschland nicht. Und auch Gottfried Benn sollte nicht Verlagsautor werden dürfen – eine Lizenz zum Druck von Benns Werken wird Johannes Weyl verwehrt –, weshalb der Verleger des Südverlags Benn an Peter Schifferli, den Gründer der Arche in Zürich, empfiehlt und so Benns erste Nachkriegsveröffentlichung, die „Statischen Gedichte“ (1949), maßgeblich befördert. (Johannes Weyl 1946 in einem Brief an Gottfried Benn: „Ich wäre glücklich, wenn ich etwas dazu tun könnte, Ihre Stimme wieder hörbar zu machen.“)

Brief von Gottfried Benn an Johannes Weyl, 1951